Du bist zu dick.
Dreißig Jahre. So lange in etwa höre ich diesen Satz. Es gibt einige Kinderbilder von mir, auf denen ich versuche meinen Bauch zu verstecken. Selbst heute, um die dreißig Jahre später, kann ich mich ganz genau an dieses Gefühl erinnern, als der Auslöser gedrückt wurde. Eine Mischung aus Scham, Unwohlsein und Schuldgefühlen. Schon damals, mit fünf Jahren. Ich, das Elefantenmädchen?
Das Gefühl, dünn zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes unbeschwert zu sein, sich in der eigenen Haut wohl zu fühlen – kenne ich nicht. Noch nie da gewesen. Was ich kenne sind wundgeriebene Innenschenkel im Sommer, häufiges Zupfen an Oberteilen beim Hinsetzen und Hosen, die nicht passen. Und seit geraumer Zeit kenne ich auch Winkfleisch, Lovehandles und besitze einen Ehering, der mir zu klein geworden ist. Scheiße? Ja. Will ich das ändern? Ja. Tue ich etwas, um das zu ändern? Nein. Oder genauer gesagt: so selten, dass ich es eigentlich auch gleich sein lassen kann.
Zu gerne würde ich mit einer Erfolgsgeschichte prahlen. Wie ich durch viel Selbstdisziplin und Spaß am Sport stets hochmotiviert die Kilos purzeln lasse. Wie ich meinen Körper herausfordere, meine Leistung steigere und wie der Gewichtsverlust mein neues, viel besseres Ich zum Vorschein bringt.
Nur: Ich BIN bereits mein besseres Ich. Oder, naja, zumindest bin ich ein ganz okayes Ich. Für mich. Mein Körper entspricht zwar nicht dem Schönheitsideal – aber hey, ich mag mich, verdammt. Genauer gesagt: ich liebe mich.
Immer wieder geistert mir durch den Kopf, dass mir das überhaupt nicht zusteht. Täglich wird einem suggeriert, dass das einfach nicht möglich ist. Und alle Dicken, die behaupten, sich selbst so zu lieben wie sie sind, machen sich in Wahrheit etwas vor.
Wahre Lebensfreude? Nur bei Kleidergröße 36 möglich.
Ich kann mich schon glücklich schätzen, dass ich nicht nach jedem Bissen ein schlechtes Gewissen habe. Dafür kommt es häufiger mal zum Besuch, wenn ich abends auf dem Sofa (oder hier vor dem Laptop) sitze. Heute schon wieder „nur“ spazieren gewesen. Die Nudeln zum Abendessen. Der Kuchen zwischendurch. Es hat doch alles keinen Sinn, so wird das auch nichts mit mir, ich bin wohl bis zum Rest meines Lebens dazu verdammt mit diesem Körper zu leben – blablabla, einigen von euch dürften die Gedanken bekannt vorkommen.
Ich sitze da und bin traurig, dass ich tagtäglich die Gelegenheit verpasse, ein erfülltes und spannendes Leben zu führen. Mit Lebensfreude durch den Tag zu hüpfen, wie die dünnen Menschen es in der Werbung tun. Nach dem Shoppen mit den Tüten in der Hand den Laden mit einer geschwungenen, glücklichen Drehung zu verlassen, als ob ich eine gut sitzende Damenbinde tragen würde. Ich Loser.
Ich sitze da und bin traurig, dass ich tagtäglich die Gelegenheit verpasse, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Dass sie es schaffen, meinen meist wunderbaren Tag zu überschatten: Die frische Luft beim entspannten Spaziergang, die leckeren Nudeln mit der Amarettini-Pfifferling-Soße, das viele Gelächter beim Kaffee und Kuchen mit einer Freundin. Mein Ernst?
Zeit, etwas zu ändern. Und damit meine ich nicht unbedingt mein Gewicht, sondern meine Einstellung dazu. Ich bin ein durch und durch glücklicher Mensch – ich möchte nicht zulassen, dass äußere Einflüsse mich davon ablenken.
Ich möchte endlich Kontra geben, wenn mein Frauenarzt mir sagt, dass ich zu dick bin um Kinder zu bekommen. Anstatt die Schuld auf mich zu nehmen und noch im Besprechungszimmer vor Traurigkeit zu weinen anzufangen.
Ich möchte dem vorwurfsvollen Blick meiner Bekannten stand halten, wenn sie mich wieder dafür rügt, dass ich nicht im Fitnessstudio war. Und sie fragen, ob sie beim Tanzen eine genau so gute Figur macht wie ich.
Ich möchte der athletischen Freundin, die mir sagt, dass sie mich noch nie hübsch gefunden hat, etwas entgegensetzen können. Was auch immer das sein mag.
Ich kann die anderen nicht verändern – meine innere Einstellung aber schon. Und manchmal machen kleine Dinge so viel aus! Ich habe vor zwei Wochen zwei neue Hosen und vier neue Oberteile gekauft. Die Umstandskleidung wanderte nach hinten in den Schrank. Mit ihnen das Gefühl, dass mein momentaner Körper eine schlechte Zwischenlösung bis zur nächstkleineren Kleidergröße ist. Als nächstes steht der Kauf von neuer Unterwäsche an – damit sollen auch die Still-BHs verschwinden. Und Shapewear soll Wunder bewirken, ich werde es auf jeden Fall ausprobieren – warum auch nicht?
Denn: ich darf mich wohlfühlen. Ich darf mich hübsch finden. Ich darf mich mögen oder gar lieben.
Wahre Lebensfreude kommt von innen. Und manchmal trägt sie eben Kleidergröße 46.