Ein behindertes Kind verändert die Familie. Doch nach der ersten Zeit des Bangens und Hoffens kann das Familienleben mit einem behinderten Kind genauso bunt, vielfältig und vor allem eines sein: glücklich!
In der Interviewreihe „Diagnose behindertes Kind“ erzählen Familien über die oft herausfordernde Anfangszeit, was es für sie bedeutet, ein behindertes Kind zu haben, wie sie Inklusion erleben und was sie sich für die Zukunft wünschen.
Hallo!
Ich freue mich, dass ich als Mama eines schwerstmehrfachbehinderten Sohnes an der tollen Aktion teilnehmen darf und so hoffentlich vielen Betroffenen Mut machen und Angst nehmen kann.
Ich heiße Rebecca, bin 36 Jahre alt, verheiratet und Mama von unserem leiblichen Sohn Til (fast 10) und unserer Tochter Emmi (fast 4), die vor etwas über einem Jahr als Dauerpflegekind unsere verrückte Familie komplett gemacht hat. Wir wohnen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Siegen, in NRW.
Rebecca findet ihr auf Instagram unter @mittendrin.statt.nur.dabei – sie freut sich über euren Besuch!
Spina Bifida – Wie ist es euch nach der Diagnose ergangen? Was waren eure Gedanken?
In der damals 22. Schwangerschaftswoche habe ich erfahren, dass unser Sohn einen „offenen Rücken“ – Spina Bifida – hat. Es war ein Freitagnachmittag und mit dieser Diagnose wurde ich einfach so nach Hause geschickt. Der Arzt sagte, ich solle am kommenden Montag noch einmal vorstellig werden. Bums, das hat gesessen! Gedankenverloren, voller Angst und einer merkwürdigen „Leere“ in mir, bin ich zum Auto gelaufen und habe meine Mama angerufen. Ich wusste, dass ich so nicht Auto fahren kann und habe ohne nachzudenken, vernünftig gehandelt und wurde abgeholt. Meinen Mann, Tils Papa, konnte ich nicht ohne Weiteres sofort erreichen, denn wie der Teufel es so will, war er zu diesem Zeitpunkt beruflich auf Montage in Indien! Indien! So weit weg – völlig alleine mit der Diagnose, die ich ihm etwas später am Telefon mitteilen musste. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich geweint habe oder nicht. Ich weiß aber, dass ich das Wochenende bei meinen Eltern verbracht habe – alleine sein konnte ich nicht! Wir haben geredet und gehofft, dass alles gut wird! Das Einzige was ich wollte: Til soll ein glückliches Kind sein – ob er mal laufen kann oder nicht, spielte für mich schon damals keine Rolle. Ein glückliches Leben sollte er haben – da wussten wir noch nicht, was noch auf uns zukommen sollte!

Wie hat euer Umfeld darauf reagiert? Habt ihr die Unterstützung von Freunden und Familie erfahren, die ihr euch gewünscht habt?
Natürlich waren erst einmal alle geschockt – wer wäre das nicht?! Aber für niemanden bestand der Gedanke, z.B. die Schwangerschaft zu beenden und darüber war ich sehr dankbar, denn diese Option gab es für mich zu keinem Zeitpunkt! Auch wenn ich im Laufe der fortschreitenden Schwangerschaft seitens der Ärzte mehrfach darauf hingewiesen wurde, dass ich mich jederzeit noch hätte gegen unser Kind entscheiden können.
Nach der Diagnose haben wir alle recherchiert, welche Behandlung etc. sinnvoll ist, wie es weiter gehen kann und was auf uns zukommen kann. Und so kam es, dass wir (mein Mann hat den nächstbesten Flieger genommen und ist nach Hause gekommen) Kontakt zu einem wundervollen Professor in Gießen aufgenommen haben, der ein Spezialist auf dem Gebiet Spina Bifida, vorgeburtliche OP, etc. ist. Kurz nach der ersten Kontaktaufnahme hatten wir schon einen persönlichen Termin mit ihm und er war vom ersten Moment an ruhig, besonnen, nahezu vertraut. Er erklärte uns, dass die SS für eine vorgeburtliche OP (Verschluss des „offenen Rückens“ im Mutterleib) schon zu weit fortgeschritten ist, ich bzw. wir aber perfekt für die Methode des Fruchtwasseraustauschs geeignet sind. Dieser Austausch dient kurz gesagt dazu, dass das ungeborene Kind bzw. die offene Stelle am Rücken, nicht mit seinem eigenen Urin etc. verunreinigt wird und somit ggf. mehr Schaden als eben nötig anrichtet. Ich wurde nur wenige Tage später stationär aufgenommen und habe insgesamt 6x einen solchen Fruchtwasseraustausch machen lassen. Vorstellen kann man es sich so ähnlich wie bei einer Dialyse, nur dass dass Fruchtwasser mit 2 großen, hohlen Nadeln direkt über die Bauchdecke herausgezogen und neue Flüssigkeit wieder rein gepumpt wird. Das alles unter örtlicher Betäubung und dem Wissen, dass es jederzeit zu einem Notkaiserschnitt hätte kommen können, da die Fruchtblase natürlich bei jedem Einstich hätte platzen können. Es grenzt an ein Wunder, dass wir das alles 6x durchlaufen haben – die meisten schaffen im Schnitt nur 3x den Austausch bis das Kind dann auf die Welt geholt werden muss. Schon damals hatte ich die Unterstützung von meiner gesamten Familie! Alle haben mitgefiebert, mir Mut gemacht, mir versucht meine Angst zu nehmen – und glaubt mir, ich bin wirklich ein Angsthase was Krankenhäuser, Spritzen etc. angeht aber mit den Gefühlen einer Mama wächst man scheinbar über sich hinaus!

Wie lange habt ihr gebraucht, bis ihr verstanden habt, dass euer Kind eine Behinderung hat? Und wie lange bis ihr sie annehmen konntet?
Wir wussten bei der eindeutigen Diagnose sofort, dass unser Sohn eine Behinderung hat. Jedoch wusste niemand, wie schwer diese ausgeprägt ist. Alles kann, nichts muss! Eine kleine Wundertüte, die bei uns in den ersten 2 Lebensjahren von Til nicht viel Gutes bereit hielt. Til wurde geplant 6 Wochen zu früh per Kaiserschnitt entbunden. Einen Tag nach seiner Geburt wurde sein Rücken in einer mehrstündigen OP verschlossen und eine Woche später entwickelte sich ein Hydrocephalus (Wasserkopf), so dass ein Shuntsystem vom Kopf bis in den Bauch gelegt werden musste. Eine Woche alt – bereits 2 OPs und viele viele Sorgen, die ich bereits ertragen musste. Til berappelte sich jedes Mal sehr schnell und so kam es, dass wir bereits 3 Wochen nach der Entbindung zum ersten Mal als Familie nach Hause durften. Wir haben Til vom ersten Tag an geliebt und seine Behinderung spielte erst einmal keine große Rolle – bis das Dilemma seinen Lauf nahm. Die Kurzfassung ist, dass Til in seinen ersten 2 Lebensjahren über 20x operiert wurde, meistens am Kopf, da es immer wieder Probleme mit dem Shunt gab. Mit 8 Monaten blieb unter einer erneuten Narkose plötzlich sein kleines Kämpferherz stehen und er wurde reanimiert. Seit dem ist Til nicht nur körperlich sondern auch geistig stark beeinträchtigt. Er entwickelte zudem eine Epilepsie und nahm so ziemlich alles mit, vor dem man eigentlich nur weglaufen sollte. Til ist bis heute eine Wundertüte, jedoch haben sich die Überraschungen zum Glück ins Positive gewandelt. Wir waren damals 2 Jahre fast durchgängig im Krankenhaus, haben viele Katastrophen erlebt und Ängste durchstanden. Über 20 OPs unter Vollnarkose, damalige Qualen und Schmerzen, Pflegegrad 5 und 100% im Schwerbehindertenausweis halten unseren Kämpfer aber nicht davon ab, ein glückliches und fast immer zufriedenes Kind zu sein – er freut sich über die klitzekleinen Dinge im Leben, z.B. wenn jemand husten muss. 😅 Und war es nicht genau das, was ich mir für unser Kind gewünscht habe? Ein glückliches Leben? 💛

Braucht ihr Hilfe im Familienalltag? Unterstützung bei bestimmten Abläufen? Wie habt ihr euch organisiert, dass das Familienleben klappt?
Unser Leben und unser Alltag sind eigentlich ganz „normal“. Til ist mit 3,5 Jahren in einen integrativen Kindergarten der AWO gekommen und besucht seit nun 4 Jahren eine AWO Förderschule für körperliche und geistige Entwicklung. Hilfe im Alltag brauchen wir von außerhalb nicht direkt, sind aber natürlich froh, wenn Oma und Opa, Tanten, Nachbarn und Freunde mal aufpassen oder einfach da sind. Leider lässt uns Corona zur Zeit relativ isoliert leben, da Til natürlich zur Risikogruppe gehört. Wir vermissen die sozialen Kontakte sehr aber gehen selbstverständlich kein unnötiges Risiko ein. Unsere Pflegetochter kam im Januar letzten Jahres zu uns und hat unser Leben noch mal auf den Kopf gestellt. Es ist wunderschön aber auch anstrengend. Sie ist das komplette Gegenteil von Til. Til ist nonverbal, sitzt im Rollstuhl und ist die Ruhe in Person. Emmi redet inzwischen wie ein Wasserfall, ist gefühlt 24 Stunden am Tag in Bewegung und komplett in der Autonomiephase. Da wird einem erst bewusst, wie „pflegeleicht“ Til doch ist, trotz oder gerade wegen seiner Behinderung…

Habt ihr ableistische Erfahrungen machen müssen? Wenn ja, welche? Wie geht ihr damit um?
Ehrlich gesagt, haben wir bisher kaum oder eigentlich keine Erfahrungen mit Ableismus machen müssen. Der Eine oder Andere guckt mal erstaunt, aber ich glaube wenn eher wegen dem Rollstuhl zum Beispiel. Til ist hier in der Gegend „bekannt“. Wir haben ihn von Anfang an nicht „versteckt“ und er war immer mit dabei. Die Menschen hier haben eher Anteil genommen und uns unterstützt, z.B. als es darum ging, dass wir einen Aufzug an unser Haus bauen mussten. Es wurden Benefizveranstaltung ins Leben gerufen und die Hilfsbereitschaft war mehr als groß! Dafür sind wir noch immer enorm dankbar!

Welche sind eure größten Erfolge bisher?
Der größte „Erfolg“ ist, dass Til lebt. Und dass kein Tag vergeht, an dem er nicht mindestens einen Lachkrampf hat und alle mit seinem Lachen ansteckt.
Was durftet ihr bisher durch die Behinderung eures Kindes lernen?
Wir durften lernen, dass es nicht selbstverständlich ist, ein gesundes Kind zu bekommen und dass man die kleinen Dinge im Leben viel mehr schätzen sollte. Wir wissen inzwischen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass ein Kind seinen Kopf alleine halten, sitzen oder laufen kann oder irgendwann sprechen lernt. Das alles kann Til nicht aber er hat sein Herz am rechten Fleck, hat einen unbesiegbaren Lebenswillen und macht uns zu besseren Menschen und stolzen Eltern.

Wie erlebt ihr Inklusion in eurem Umfeld?
Ich finde, dass Inklusion erst dann stattfindet, wenn man nicht mehr explizit darüber sprechen muss. Und ich kann glücklicherweise behaupten, dass genau dies bei uns der Fall ist. In unserem Umfeld gehört Til einfach dazu, genau so wie Emmi dazu gehört oder meine kleine Nichte oder die Kinder unserer Freunde. Eben mittendrin statt nur dabei!
Welchen Rat würdet ihr Eltern geben, die gerade vor der herausfordernde Anfangszeit einer Diagnose stehen?
Schaut, wo ihr am bestmöglichen betreut und behandelt werden könnt. Vergesst niemals, dass ihr so viel mehr aushalten und schaffen könnt, als ihr es bisher für möglich gehalten habt. Und denkt immer daran: „Ein behindertes Kind ist wie ein krummer Baum. Du kannst ihn nicht gerade biegen, aber du kannst ihm helfen, Früchte zu tragen.“ Euer Kind wird euch auf seine ganz eigene Art und Weise dafür belohnen!

Was wünscht ihr euch von Politik und Gesellschaft?
Wir wünschen uns, dass pflegende Angehörige (und auch die Menschen mit einer Behinderung) viel mehr gehört und gesehen werden! Sein behindertes Kind zu pflegen, ist in unserem Falle, ein 24 Stunden „Job“ – 7 Tage die Woche und 365 Tage im Jahr. Dafür bedarf es seitens der Politik mehr Anerkennung und Entlastung, sei es durch die Verhinderungspflege, einen nicht ständigen Kampf mit der Krankenkasse (wobei wir da bisher kaum Probleme hatten) oder das aktive Leben von Inklusion.
Was wünscht ihr eurer und anderen betroffenen Familien für die Zukunft?
Wir wünschen uns, dass alle Betroffenen ihr Lachen niemals verlieren und nicht nur das „Schlechte“ sehen, sondern die vielen kleinen, schönen Momente erkennen und genießen können. Außerdem hoffen wir, dass das Thema Inklusion immer mehr gelebt wird und die betroffenen Kinder und Eltern nicht am Rand sondern in der Mitte der Gesellschaft stehen!
Meldet euch gern, wenn ihr Fragen habt oder an einem Austausch interessiert seid. Wir freuen uns über neue und alte Kontakte, über neue Weggefährten und alle, denen wir Mut machen und Angst nehmen können! 💛
Vielen Dank für eure Offenheit! Wir wünschen euch einfach das Beste ❤️
Willst du auch mitmachen?
Möchtest auch du anderen Eltern, die gerade vor der herausfordernde Anfangszeit einer Diagnose stehen, Mut machen? Dann mache gerne mit! Die Interviewreihe „Diagnose Kind mit Behinderung“ soll unsere Gedanken, Gefühle und Erfahrung als Eltern eines behinderten Kindes sichtbar machen. Wir sind nicht allein!