Ein behindertes Kind verändert die Familie. Doch nach der ersten Zeit des Bangens und Hoffens kann das Familienleben mit einem behinderten Kind genauso bunt, vielfältig und vor allem eines sein: glücklich!
In der Interviewreihe „Diagnose behindertes Kind“ erzählen Familien über die oft herausfordernde Anfangszeit, was es für sie bedeutet, ein behindertes Kind zu haben, wie sie Inklusion erleben und was sie sich für die Zukunft wünschen.

Mein Name ist Désirée und ich lebe mit meinem Partner und unserem Sohn in Schleswig-Holstein. Mein Sohn kam im Sommer 2018 als gesundes Kind zur Welt. Zwar etwas früher, aber ziemlich fit. Aufgrund von Komplikationen in der ersten Woche, hat er unter anderem eine Zerebralparese und eine Sehbeeinträchtigung entwickelt. Ich berichte ein bisschen über unser Leben mit einem Kind, welches mit Behinderungen lebt, auf Instagram unter @unddannkammini

Zerebralparese – Wie ist es euch nach der Diagnose ergangen? Was waren eure Gedanken?

Im ersten Moment war es ein großer Schock. So hatte ich mir das aber ganz und gar nicht vorgestellt. Für mich war klar, dass ich mit einem gesunden Kind nach Hause gehe. Was die Komplikationen bedeuten und die Tragweite dahinter habe ich damals gar nicht verstanden. Auch der Ernst der Lage war mir persönlich nicht klar. Ich wollte nur die ganze Zeit, dass mein Kind überlebt. Alles weitere habe ich erstmal ignoriert.

Die Ärzte haben uns auf alles vorbereitet und wir hatten wirklich viel Glück. Das gesamte Team war sehr emphatisch. Es gab nie ein: „Das wird er nicht können!“ Immer sagte man uns, wir wissen nicht, was passieren wird. Das können wir nicht sagen. Damit hatte ich auch immer viel Hoffnung. Somit konnte ich in die Situation auch gut hineinwachsen. Ich hatte aber auch nicht den Drang viel zu hinterfragen. Wahrscheinlich auch zum Selbstschutz. Nach dem ersten Schock, die Verdrängung und der Trauer bin ich in den „Jetzt zeigen wir es allen“-Modus gegangen. Somit bin ich auch hier Schritt-für-Schritt hineingewachsen.

Durch ein tolles Team in der Klinik und unseren Familien sind wir sehr gut aufgefangen worden. Uns wurde auch direkt eine sehr gute Psychologin an die Seite gestellt. Außerdem kam regelmäßig eine ganz tolle Pastorin zu uns. Wir durften viel Reden und das hat uns sehr geerdet und geholfen. Als weitere Hilfe gab es regelmäßig einen Eltern-Stammtisch. Auch hier saß man unter Gleichgesinnten und ein Oberarzt der Neo war immer dabei. Das hat uns allen sehr geholfen. Nichts desto Trotz habe ich am Anfang viel geweint und die Welt nicht verstanden. Es kam zwar nicht die Frage „Warum wir?“, aber ich konnte es nicht verstehen, dass so ein kleines Wesen schon soviel schlimmes über sich ergehen lassen muss. Aber als ich gesehen habe, das mein Sohn so sehr kämpft und bei uns sein möchte, war ich auch sehr, sehr stolz. Und das hat mir dann Mut gemacht und ich habe angefangen mit ihm zu kämpfen. Zudem haben wir versucht unseren Humor nicht zu verlieren. In jeder schwierigen Situation haben wir versucht auch zu lachen. Denn auch lachen befreit und löst.

Wie hat euer Umfeld darauf reagiert? Habt ihr die Unterstützung von Freunden und Familie erfahren, die ihr euch gewünscht habt?

Unser Umfeld war genauso geschockt. Unsere Familie wohnt weiter weg. Trotzdem haben sich alle auf den Weg gemacht um uns zu unterstützen. Da haben wir einen ganz tollen Rückhalt. Genauso unsere engsten Freunde. Ein Kumpel kam zum Beispiel vorbei und hat mal eben mitgeholfen das Kinderzimmer spontan herzurichten. Einfach weil wir das Bedürfnis hatten und durch die Frühgeburt waren wir noch nicht soweit.

Wobei man sagen muss, dass nicht jeder mit der Situation zurecht gekommen ist. Zum Teil wusste man nicht, wie man mit uns nun umgehen soll. Wir waren aber auch nicht in der Lage zu kommunizieren, was wir brauchen. Wir hätten es gebraucht, dass man uns zuhört, mit Essen versorgt, mal den Haushalt erledigt etc.. Das habe ich inzwischen gelernt, mehr nach Hilfe zu fragen.

Wie lange habt ihr gebraucht, bis ihr verstanden habt, dass euer Kind eine Behinderung hat? Und wie lange bis ihr sie annehmen konntet?

Das sich Mini nicht altersgerecht entwickelt, habe ich bereits im Krankenhaus gemerkt, wollte es aber nicht wahrhaben. Ich war noch im Modus: „Bei uns wird sich alles „normal“ entwickeln!“

Nach unserer Entlassung wollte ich erstmal die Babyzeit genießen und habe Mini beim Babyschwimmen angemeldet. Er war sechs Monate alt und nun trafen wir auch auf gleichaltrige Babys. Man merkte einen Unterschied. Vor allem, dass Mini noch völlig unselbständig war. Auch die anderen Eltern waren uns gegenüber befangener. Man sah bei Mini die Narben am Kopf und hier waren wir das erste Mal den Blicken ausgesetzt. Eine Mama fragte uns und ich habe offen geantwortet. Danach war es dann in Ordnung für alle.

Im Laufe der Zeit wurde die Schere immer größer. Ich fing an von Entwicklungsverzögerung zu sprechen. Immerhin hat er über fünf Monate im Krankenhaus verbracht. Er muss ja erstmal Zuhause ankommen. Es kamen dann weitere Diagnosen. Ab da war mir klar, dass die Behinderungen bleiben werden. Mir war klar, dass mein Kind nicht gesund ist und nicht geheilt werden kann. Jedoch konnte ich es noch nicht aussprechen und ich habe von Baustellen gesprochen.

Als Mini circa 15 Monate alt war, habe ich angefangen zu sagen, dass er ein „besonderes Kind“ ist. Er konnte sich inzwischen drehen, aber vom Sitzen, Krabbeln, Robben usw. waren wir meilenweit entfernt. Mit ungefähr 18 Monaten habe ich es vollends akzeptiert und sage es seitdem auch: Mini lebt mit Behinderungen! Gewusst schon lange, aber akzeptiert erst mit der Zeit. Es braucht einfach Zeit. Wie in der Entwicklung eines Kindes ist auch hier jeder verscheiden, wie er damit umgeht. Jede Art und jedes Gefühl sind in Ordnung. Man muss sich für nichts schämen.

Braucht ihr Hilfe im Familienalltag? Unterstützung bei bestimmten Abläufen? Wie habt ihr euch organisiert, dass das Familienleben klappt?

Im Familienalltag brauchen wir grundsätzlich keine Hilfe, aber es erleichtert unheimlich, wenn es Hilfe gibt. Seit kurzem haben wir eine Reinigungshilfe und das ist wirklich Gold wert. Wir sind tatsächlich sehr ins klassische Rollenbild gerutscht. Wir haben uns aber selber und aktiv dafür entschieden. Mein Partner arbeitet Vollzeit und ich bin in Teilzeit selbständig. Ich kümmere mich um die Termine und Therapien. Wobei ich auch zugeben muss, dass ich da auch sehr ein Kontroletti bin. Ich möchte auch gerne die Hand drauf halten. Daher passt es für uns sehr gut.

Wir lassen uns regelmäßig eine Obst- und Gemüsekiste und eine Kochbox liefern, damit wir uns weniger Gedanken um unser Essen machen müssen. Auch das entlastet uns sehr. Ansonsten regeln wir unseren Alltag in unserer kleinen Familie. Wir freuen uns, wenn die Omas mal kommen und auf Mini aufpassen. Das tut auch sehr gut, um mal neue Kraft zu tanken.

Habt ihr ableistische Erfahrungen machen müssen? Wenn ja, welche? Wie geht ihr damit um?

Noch nicht so extrem. Natürlich hat man mal so Sätze wie: „Wie schön er das macht, TROTZ seiner Behinderung!“ oder „Er ist ja immer so fröhlich!“ gehört. Mein Lieblingssatz – nicht – ist ja immer: „Da ist ja einer müde!“ .

Die Menschen sind einfach noch nicht sensibilisiert und haben kaum Berührungspunkte. Aus der Not heraus, sind solche Sätze entstanden. Manchmal kläre ich auf, aber manchmal habe ich auch einfach keine Lust. Es kommt auf meinen Gegenüber auch drauf an. Haben die Menschen ehrliches Interesse, dann gebe ich gerne Auskunft. Ist es aber nur Sensationsgier, dann spare ich mir das.

Womit ich am meisten Probleme habe ist das Mitleid. Auch hier ist es so eine gängige Aussage geworden: „Es tut mir so leid“. Ich verstehe, dass Mitgefühl ausgedrückt werden soll. Aber diese Aussage ist einfach nicht in Ordnung. Mitleid ist nicht angebracht. Mein Sohn ist nichts, was man bemitleiden muss. Genauso der Satz: „Ich könnte das ja nicht!“. Auch dieser Satz soll Wertschätzung ausdrücken. Verstehe ich. Aber diesen Satz möchte man als Betroffener nicht hören. Welche Wahl hatte ich denn? Keine! Ich liebe meinen Sohn. Und ich gehe davon aus, dass mein Gegenüber seine Kinder auch liebt. Man tut alles, was einem möglich ist, für seine Kinder. In schwierigen Situationen wird man zum Löwen für seine Kids und man setzt unbekannte Kräfte frei.

Welche sind eure größten Erfolge bisher?

Der für mich größte Erfolg ist, dass unser Umfeld angefangen hat über den Tellerrand zu sehen. Dass eine Behinderung nichts ist, wofür man sich schämen muss und dass Mini so angenommen wird, wie er ist. Er ist halt Mini. Es spielt in unserem Alltag und Umfeld keine Rolle, dass er etwas nicht kann. Er ist in einer Regel-Krippe als erstes Kind mit Behinderungen. Er bereichert dort so sehr den Alltag. Die Kita und wir sind froh, dass wir es einfach probiert haben. Denn nur so kann Inklusion weiter voran getrieben werden. Vor allem haben die Kids auch die Chance mit weniger Berührungsängsten aufzuwachsen. Die Kids untereinander sind einfach der Hammer. Auch hier ist es so, dass Mini einfach Mini ist.

Was durftet ihr bisher durch die Behinderung eurer Kinder lernen?

Ganz, ganz viel Geduld. Ist eigentlich überhaupt nicht meine Stärke, aber Mini lehrt mich das jeden Tag. Zudem auch unbändige Freude über die kleinsten Dinge. Man sieht viel genauer hin und freut sich über so viele Kleinigkeiten zum Beispiel eine offen Hand oder das erste Mal selber etwas in den Mund stecken. Ich gehe wesentlich bewusster durch die Zeit, denn ich nehme nichts als selbstverständlich an. Zudem habe ich ganz viele tolle Leute dadurch kennengelernt. Denn solche Erfahrungen verbinden auch sehr. Außerdem habe ich auch angefangen, mehr über den Tellerrand zu schauen. Es hört sich jetzt sehr kitschig an, aber mein Leben fühlt sich seit Mini bunter an.

Wie erlebt ihr Inklusion in eurem Umfeld?

Gute Frage. Von bis. In der Kita wird es gerade automatisch gelebt. Auch unsere Freunde und Familie leben es mit uns. Aber es ist noch ein langer Weg. Mini wurde zum Beispiel noch nie auf einen Geburtstag außerhalb unserer Freunde eingeladen. Genauso ist es mit fremden Leuten, die einfach Glotzen. Solange man noch unterscheidet, müssen wir die Inklusion weiter voran treiben und leben.

Welchen Rat würdet ihr Eltern geben, die gerade vor der herausfordernde Anfangszeit einer Diagnose stehen?

Gebt euch die Zeit, die ihr braucht. Alle Gefühle sind erlaubt. Lacht, weint, schreit, lasst die Wut raus. Redet darüber. Ihr dürft so viel reden, wie ihr es braucht. Lasst euch hier nie etwas anderes sagen. Nutzt die psychologische Betreuung oder die Seelsorge. Redet mit anderen Betroffenen. Sei es in Social Media oder Elterntreffs. Mir persönlich hat sehr der Austausch über Instagram, Elterntreff und mit der Psychologin geholfen. Versucht euer Lachen nicht zu verlieren. Das Leben mit einem behinderten Kind ist anders, aber es ist genauso gut! Gebt euch und euren Kindern einfach Zeit. Ein schönes Sprichwort, welches mir immer wieder hilft: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!“

Was wünscht ihr euch von Politik und Gesellschaft?

Mehr Sichtbarkeit und das Menschen mit Behinderung auch immer bedacht werden. Durch Corona ist es leider sehr deutlich wieder geworden, dass uns eine Lobby fehlt und Menschen mit Behinderung sehr weit am Rand stehen. Ich wünsche mir, dass Menschen mit Behinderung ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft finden. Das gilt im Übrigen für jede Randgruppe. Jeder Mensch gehört mitten rein!

Was wünscht ihr eurer und anderen betroffenen Familien für die Zukunft?

Das wir uns mehr um die schönen Dinge kümmern können und weniger um die ganze Bürokratie, was ein Leben mit Behinderungen mit sich bringt. Das man die Unterstützung bekommt, die einem zusteht und nicht für alles kämpfen, Anträge schreiben, bitten und betteln muss. Denn eins ist klar: Das Leben mit meinem Sohn ist ganz toll und sehr schön. Wir sind eine Familie wie jede andere auch. Was es so kräftezehrend macht ist die Bürokratie drumherum.

Vielen Dank für eure Offenheit! Wir wünschen euch einfach das Beste ❤️

Willst du auch mitmachen?

Möchtest auch du anderen Eltern, die gerade vor der herausfordernde Anfangszeit einer Diagnose stehen, Mut machen? Dann mache gerne mit! Die Interviewreihe „Diagnose Kind mit Behinderung“ soll unsere Gedanken, Gefühle und Erfahrung als Eltern eines behinderten Kindes sichtbar machen. Wir sind nicht allein!