Ein behindertes Kind verändert die Familie. Doch nach der ersten Zeit des Bangens und Hoffens kann das Familienleben mit einem behinderten Kind genauso bunt, vielfältig und vor allem eines sein: glücklich!
In der Interviewreihe „Diagnose behindertes Kind“ erzählen Familien über die oft herausfordernde Anfangszeit, was es für sie bedeutet, ein behindertes Kind zu haben, wie sie Inklusion erleben und was sie sich für die Zukunft wünschen.

Hello, wir sind Big L(6), Little L (2), Alex und Christoph aus München. Little L und ich (Alex) sind die Gesichter hinter unserem Account @heldenmaedchen2019, wo wir unsere Geschichte teilen. Denn Little L ist mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt gekommen, der in den schlimmsten Zeiten zu über 40 epileptischen Anfällen geführt hat. Wir hatten unendliches Glück, Little L konnte operiert werden und seitdem geht es ihr sehr viel besser. Aber ich weiss auch noch, wie hart besonders der Anfang rund um die Diagnose war, wie alleine ich mich gefühlt habe und wie wenig Ahnung ich hatte, wie ich das alles schaffen sollte. Daher bin ich unendlich dankbar, dass es Seiten und Accounts wie euren gibt und wir hier unsere Geschichte erzählen und vielleicht anderen ein bisschen Mut machen dürfen.

Was ist es euch nach der Diagnose ergangen? Was waren eure Gedanken?

Wir haben davon bereits in der 20. Schwangerschaftswoche erfahren. Da tat die Ärztin das, was man nie will das Ärzte tun. Sie schwieg. Sie untersuchte weiter und sagte nichts, bestimmt 5 Minuten lang. Dann sagte sie irgendwas von Rhabdomyomen im Herzen und dass es harmlos sein könnte oder ein Hinweis auf eine genetische Erkrankung. Ich verstand nichts. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, ich heulte und heulte und ich wusste nicht mal warum, denn ich hatte keine Ahnung was das alles bedeuten sollte.

Wir sassen auf einem Stuhl vor dem Wartezimmer, nicht darin. Wahrscheinlich um den anderen Schwangeren keine Angst zu machen, denn wenn man eine Schwangere auf einem Stuhl Rotz und Wasser heulen sieht, dann kann man sich denken, dass irgendwas nicht stimmt. Dann folgten Fruchtwasseruntersuchung und Genetik. Die ganze Zeit glaubte ich nicht, dass etwas nicht stimmen könnte. Ich war mir sicher, es würde alles ok werden. Irgendwann rief die Gentikerin an: Ja es gab eine Genveränderung, aber man wisse nicht, was das bedeute, es sei nicht typisch für die Krankheit. Es könne alles heissen und auch nichts. Sie rieten uns, uns testen zu lassen. Sollte einer von uns die gleiche Genveränderung haben, wäre das ein gutes Zeichen.

Natürlich machten wir mit, ein bisschen Blut, kein Problem. Ich hatte die selbe Genveränderung. Entwarnung? Keine Ahnung. Niemand wusste was, aber es schien alle zu beruhigen, war ich doch gesund. Ich konnte mich etwas entspannen, aber die Freude war weg. Du kannst zwar alle 2 Wochen dein Baby sehen, doch fängt die Scheisse schon an – du siehst nicht mehr dein Baby, du siehst nur noch Teile davon, eine Diagnose, ein Problem. In ihrem Fall – ihr Herz. Bei jeder Untersuchung klammerte mich fest an die Geschichten der Kinder, denen schlimme Schicksale vorausgesagt wurden, die aber trotzdem ganz normal auf die Welt kamen. Ich war mir sicher- es ist nie irgendwas sicher, wir schaffen das, egal was kommt. Wir kümmerten uns auch nicht um die Spezialisten, zu denen man uns geraten hatte, wir waren ja Optimisten. Es würde schon ok werden. Oh meine Fähigkeit Dinge zu verdrängen.

Die finale Diagnose kam erst mit 3 Monaten. Da fing L an beim Einschlafen und Aufwachen zu zucken. Irgendwas stimmte da nicht, ich hoffte, ich würde mich irren. Wir wurden ins Krankenhaus geschickt, ich war immer noch sicher, dass alles harmlos ist. Dort erzählten uns etwas von BNS Epilepsie, von Tuberöser Sklerose als Ursache- der Gendefekt von dem sie gesagt hatten es sei unwahrscheinlich, dass sie ihn habe. Sie gaben uns einen Flyer und ließen uns alleine. Ich las den Flyer und las nur die guten Sachen, die richtig schlechten Prognosen ignorierte ich. Obwohl es bei der Diagnose nicht viel Gutes gab.

Die Ärztin hatte gesagt, wir sollen nicht googlen. Ich tat es trotzdem. Der erste Treffer den ich fand, war der Flyer, den ich in meinen Händen hielt. Wie konnte es sein, dass wir in einem renommierten Krankenhaus den ersten Treffer der Google Suche als Informationsquelle bekamen und sonst nichts? Ich schrieb mir Fragen über Fragen für die Ärztin auf und doch erfuhr ich nichts. Sie beantwortete alle, immer mit einem Fuss in der Tür. Einer Arschbacke auf dem Stuhl, der anderen schon beim nächsten Patienten. Sie antwortete auf meine Fragen, aber auch nicht mehr. Auf Fragen die lächerlich waren, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Ob sie den Schwimmkurs machen kann, den ich für sie gebucht habe. Ob sie irgendwann mal mit ihren Freunden ausgehen kann. Ob sie auf eine normale Schule gehen kann. Ich hatte keine Ahnung. Das Bild, dass uns gemalt wurde war schwarz. Eine Behinderung wahrscheinlich, eine starke Entwicklungsverzögerung sowieso. Eine Schere, die, wenn Lara älter würde immer größer werden würde. Ich glaubte ihnen immer noch nicht. Mein kleines Mädchen, dass gerade angefangen hatte sich zu drehen, nach Sachen zu greifen, mich anzulächeln. Sie war so normal entwickelt, wie jedes andere Kind auch und das würde auch so bleiben.

Wie hat euer Umfeld darauf reagiert? Habt ihr die Unterstützung von Freunden und Familie erfahren, die ihr euch gewünscht habt?

Die erste Reaktion war bei allen wie bei uns: Verdrängung. Das stimmte alles nicht, das würde schon alles werden. Sie versuchten uns Hoffnung zu machen. Am Anfang ging das noch ganz gut, aber je länger es Little L schlecht ging, desto schwieriger ist es mir gefallen ihnen zu glauben. Aber sie waren alle da. Immer und jederzeit, auch wenn sie manchmal noch hilfloser waren als ich, weil sie ja nicht nur L trösten, sondern meine ganze Trauer, Wut und Verzweiflung aushalten mussten. Sie hatten alle Zeit für Big L, haben sie vom Kindergarten mitgenommen und mit ihr Eis gegessen und ihr schöne Erinnerungen gegeben, wenn wir es nicht konnten.

Wie lange habt ihr gebraucht, bis ihr verstanden habt, dass euer Kind eine Behinderung hat? Und wie lange bis ihr sie annehmen konntet?

Sehr lange. Manchmal fällt es mir immer noch schwer. Da mache ich L jünger als sie ist, um keine Fragen beantworten zu müssen. Da sage ich L ist „krank“, obwohl ich eigentlich behindert meine. Es kommt einem nicht leicht über die Lippen und das finde ich unendlich schade. Denn ich denke, wenn wir es innerhalb unserer Gesellschaft schaffen würden „Behinderung“ nicht mit etwas schlechtem zu verbinden, den Eltern die behinderte Kinder haben oder bekommen wirklich zur Seite stehen würden, dann würde es einem leichter fallen zu akzeptieren, dass es nun mal so ist. Denn Little L hinterfrage ich nicht. Dass sie nicht läuft oder nicht spricht ist mir egal, ihre Behinderung an sich ist mir egal. Wir hatten es schon so viel schlimmer, mit 40 Anfällen am Tag, da ist das hier gerade wirklich easy. Aber die Akzeptanz fehlt und ich merke, dass mich das stört.

Braucht ihr Hilfe im Familienalltag? Unterstützung bei bestimmten Abläufen? Wie habt ihr euch organisiert, dass das Familienleben klappt?

Mittlerweile klappt es gut. Little L hat einen I-PLatz und geht 3 Stunden am Tag in die Krippe. Das ist für uns alle super und schafft ein bisschen Freiraum. Als die Anfälle schlimm waren, war das nicht denkbar. Sie konnte nicht in Fremdbetreuung, niemand hätte sie genommen. Der familienentlastende Dienst konnte das auch nicht leisten. Ab und zu war Little L bei der Oma für ein paar Stunden, wenn ich Termine hatte oder was anderes machen musste. Ansonsten musste sie mit. Wir waren beim Schwimmkurs und sie hat gekrampft, wir waren auf dem Spielplatz und sie hat gekrampft. Ich hab irgendwie überlebt. Zu mehr hatte ich keine Energie. Die Große musste viel zurückstecken. Einfach weil man L nicht ablegen konnte, nie aus den Augen lassen konnte. Normalität war einfach nicht möglich.

Habt ihr ableistische Erfahrungen machen müssen? Wenn ja, welche? Wie geht ihr damit um?

Ein paar. Zum Beispiel hat eine Mutter aus dem Kindergarten ihren Schulkindern nicht erzählt was L hat, sondern gemeint, sie habe nur einen Husten. Das hat mich schon verletzt, weil es sich für mich so anfühlt, als wäre es etwas so Schlimmes, dass man es seinen Kindern nicht zumuten kann. Ich finde man muss nicht alles ins Detail erklären, aber kindgerecht eben schon. Ich hab in dem Moment nichts gesagt und ärgere mich heute noch. Heute würde ich das anders machen, ich finde ein offener Umgang ist der erste Schritt, damit das Thema Behinderung normal wird.

Welche sind eure größten Erfolge bisher?

L wurde vor einem halben Jahr operiert und ist seitdem anfallsfrei. Es ist, als hätte man uns unser Kind zurückgegeben. Sie macht unfassbare Fortschritte und lacht den ganzen Tag (ausser, sie schafft irgendwas nicht). Das ist der grösste Erfolg und das größte Glück.

Was durftet ihr bisher durch die Behinderung eurer Kinder lernen?

Wie wichtig es ist, eine Community zu haben. Menschen, die verstehen, wie es dir gerade geht und die an deiner Seite sind, egal, wie dunkel es dort gerade ist. Und, dass es nicht um Meilensteine, sondern um Erinnerungen geht.

Wie erlebt ihr Inklusion in eurem Umfeld?

L geht seit Januar in die Krippe, da ist ein kleines Mädchen, die sie jeden morgen mit einem Jauchzer und „LALA“ begrüsst. Ich könnte jedes Mal heulen vor Freude. Darüber, dass sie ihren Platz gefunden hat, und Freunde und Normalität. Oder, wenn die Freude meiner Großen sie ganz natürlich ins Spiel einbeziehen, auch, wenn sie noch nicht alles kann. Und auch wenn meine Große dann rumstänkert und beleidigt ist, dass alle nur mit ihrer Schwester spielen. Denn das gehört ja nun mal alles zum Leben dazu.

Welchen Rat würdet ihr Eltern geben, die gerade vor der herausfordernde Anfangszeit einer Diagnose stehen?

Sich unbedingt andere Eltern suchen, die wissen was gerade mit einem passiert. Nicht nur die ganzen Dinge die zu erledigen sind, sondern die Achterbahn der Gefühle in der man steckt. Ich denke, das ist das allerwichtigste. Drauf scheissen, was die Ärzte einem sagen und sein Kind anschauen, meistens weiß man es besser, bzw. muss nicht alles annehmen, was sie einem hinknallen. Auf sein Gefühl vertrauen. Nicht alles an sich rankommen lassen. Sich ein gutes Hilfesystem aufbauen, egal ob durch Familie oder Freunde oder irgendwie anders. Ok damit sein, dass es oft auch einfach nicht ok ist, dass es nicht immer inspirierend ist ein behindertes Kind zu haben, auch wenn einem das oft suggeriert wird.

Was wünscht ihr euch von Politik und Gesellschaft?

Unterstützung, vor allem am Anfang. Wo bekomme ich was, was sind meine Rechte. Mehr Inklusion, und zwar richtig. Keine Parallelwelten schaffen, sondern zusammen etwas erreichen. Es müssen offene Gespräche stattfinden können, Fragen gestellt werden dürfen und nach Gemeinsamkeiten gesucht werden, anstatt nach Unterschieden. Deshalb habe ich mit einer Freundin auch einen Label gegründet, wo es genau darum geht. Wir machen Statement Shirts für „Special Editions“, mit denen wir mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken wollen, Außerdem spenden wir für jedes verkaufte Shirt einen Teil an Hilfsorganisationen, damit wir auch so noch etwas Gutes Tun können. www.specialeditionstudio.de

Was wünscht ihr eurer und anderen betroffenen Familien für die Zukunft?

Als Little L ihre Diagnose erhielt war ich vor allem überwältigt, wie einsam dich ein Kind mit besonderen Bedürfnissen machen kann. Es ist schwer Gleichgesinnte, Unterstützung und oft auch Verständnis zu finden. Ich wünsche mir und allen anderen Kindern und Eltern festen Platz in unserer Gesellschaft bekommen und zwar mittendrin und nicht nur am Rand. Es muss normal werden, dass über Krankheiten und Behinderungen auf dem Spielplatz gesprochen wird und dass behinderte Kinder genauso zum Geburtstag eingeladen werden wie alle anderen auch (oder eben nicht, wenn ihnen gerade mit „dann wirst du nicht zu meinem Geburtstag eingeladen“ gedroht wird). Ich wünsche mir, dass es normal ist „anders“ zu sein. Dass wir nicht übersehen, aber auch nicht gefeiert werden. Dass wir einfach dazu gehören und unseren Weg in der „normalen“ Welt gehen dürfen und nicht immer auf dem Abstellgleis.

Vielen Dank für eure Offenheit! Wir wünschen euch einfach das Beste ❤️

Willst du auch mitmachen?

Möchtest auch du anderen Eltern, die gerade vor der herausfordernde Anfangszeit einer Diagnose stehen, Mut machen? Dann mache gerne mit! Die Interviewreihe „Diagnose Kind mit Behinderung“ soll unsere Gedanken, Gefühle und Erfahrung als Eltern eines behinderten Kindes sichtbar machen. Wir sind nicht allein!