Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber es gibt sie. Die Zeiten, in denen alles zusammenfällt, was eigentlich nicht zusammenfallen kann. Und dadurch das Leben auseinander fällt.
Vielleicht habt ihr es über Instagram verfolgt – Anfang des Monats stand für uns eine Reise an, die uns allen viel bedeutete: Eine bis zwei Wochen am schönen Chiemsee. Dort soll nicht nur die Landschaft traumhaft sein, sondern angeblich auch die besten Orthesen Deutschlands hergestellt werden. Eine gute Gelegenheit, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden: Für den Kleinen neue Orthesen und für uns alle eine spannende Zeit mit frischer Bergluft.

Wie lange wir unterwegs sind? Wissen wir zu dem Zeitpunkt nicht – die Dauer der Reise hängt von der ersten Untersuchung und der Entscheidung ab, ob der Kleine Unter- oder Oberschenkelorthesen bekommt. Also buchen wir für die erste Woche einen Bauernhof, für die zweite einen Campingplatz und für die gesamte Zeit eine schöne Hundepension für Emmy, den Hund. Die Idee dahinter: Leichtigkeit und Spontanität für uns, Abwechslung und Abenteuer für die Kinder. Ich weiß. Wir hätten es einfach besser wissen müssen…
Denn das Abenteuer geht schon in der Woche vor der Reise los: Der Pachtvertrag der ersten Hundepension läuft aus, Emmy kann da nicht bleiben. Doch bevor wir uns fragen können, wie spontan so etwas passieren mag, haben wir schon eine neue Pension gefunden, die uns gefällt. Nach einem Kennenlerntag wissen wir, dass es die richtige Pension ist. Bis das Telefon vier Tage vor der Abreise klingelt – für die Pension liegt eine Räumungsklage vor und sie können für die Zeit unseres Urlaubs keinen neuen Hund aufnehmen. Mit dem seltsamen Gefühl, dass das Universum uns etwas sagen möchte, machen wir uns auf die Suche nach der dritten Pension. Zwei Tage vor Abreise ist sie gefunden und entgegen unseren Erwartungen gibt es bis zur Abfahrt weder seismische Aktivitäten noch Meteoriteneinschläge – es kann losgehen.

Zeit also den Wohnwagen zu holen. Am Abend vor dem Losfahren räumen wir ihn ein, setzen uns hin, stoßen auf die Reise an und checken die Wetterapp: Eis- und Schneewarnung für die Region. Nein, sagt meine Frau – sie möchte nicht als einzige die ganze Strecke fahren (ich darf nicht) und in den Bergen bei Eis und Schnee ist es ihr verständlicherweise zu heikel. Also Wohnwagen wieder ausräumen, alles in Taschen packen, ab in den Bus.
Hätten wir hier gewusst, was in den nächsten Stunden und Tagen alles kommen würde und wie unnötig unsere Sorgen sind, ob wir genug Schlaf für die lange Fahrt bekommen…
Meine Frau macht sich im Badezimmer fertig für die Nacht, ich räume das Wohnzimmer auf – und schon steht sie blass vor mir und zeigt mir den Knoten, den sie soeben in ihrer Brust entdeckt hat. Nein, nicht die Art von Knoten, den man erstmal wieder suchen muss, um ihn zu finden. Sondern murmelgroß und gestern noch nicht da. Sicher ist sicher – ab ins Krankenhaus. Die Fahrt ist lang, in der Zeit telefonieren wir und versuchen uns zu halten. Was uns erstaunlich gut gelingt. Bis Emmy plötzlich anfängt zu würgen und sich zu übergeben. Und mir dann einfällt: Emmy ist doch in der Hundepension!

So schnell kann ich gar nicht gucken, wie ich im Kinderzimmer stehe. Nach einigen Stunden ist das Kind wieder im Bett und meine Frau zu Hause. Mit einer vorübergehenden Entwarnung – im Ultraschall sieht der Knoten nicht besonders verdächtig aus. Weitere Untersuchungen sollten aber selbstverständlich stattfinden.
Den Samstag brauchen wir, um uns und unsere Gedanken zu sammeln. Ein Knoten in der Brust, Fieber und Magen-Darm, sollen wir etwa doch abbrechen? Nein, das ist keine Option – die Reise hatten wir schon in November coronabedingt verschoben und seine vorhandenen Orthesen sind inzwischen zu klein. Mit Eimer unter dem Arm und dem Wissen, dass meine Frau direkt nach der Ankunft wieder zurück nach Hause für ihre Untersuchungen fährt, geht es endlich los. Es klappt. Wir kommen am Sonntag Abend an.

Am Montag geht es für den Kleinen schon los – Füße vermessen, Gangbild beurteilen, Röntgenaufnahmen machen. Ich bin froh, dass meine Frau das mit ihm macht. Orthesen, mein persönlicher wunder Punkt (dazu in einem anderen Blogpost mehr) und dann möglicherweise auch noch auf bayrisch? Lieber bleibe ich zu Hause und mache mir währenddessen Gedanken, warum es dem Großen so schlecht geht. Die „gute“ Nachricht des Tages: Es sollen Oberschenkelorthesen werden – also bleiben wir zwei Wochen und haben doch noch ein wenig Zeit zusammen.
Am Dienstag werden die Orthesen hergestellt – für uns soll es der einzig freie Tag in diesen zwei Wochen bleiben. Wobei frei stimmt nicht ganz – meine Frau fährt zurück nach Hause (Zugverspätungen und fehlende Anschlüsse erspare ich euch an dieser Stelle) und ich verbringe den Tag mit dem Handy in der Hand. Wo liegt nochmal dieser McBurney-Punkt, der bei einer Blinddarmentzündung weh tut? YouTube weiß Rat – ein „netter“ Zeitvertreib, der mich davon abbringt, vor Sorge völlig frei zu drehen und die 112 zu wählen. Zum Glück bekommen wir noch abends einen Termin beim Arzt. Entwarnung, der Blinddarm ist es nicht.

Während meine Frau zu Hause Ultraschall und Biopsie macht, kommt der Große doch wieder auf die Beine und ich mit viel Aspirin über die Runden. Nein, eine Erkältung ist für mich definitiv keine Option – jetzt stehen tägliche Termine für die Anprobe der Orthesen an. Danke liebes Universum, dass du dich auf diesen Deal einlässt und mir nur Stressherpes bescherst, mich aber von einer schlimmeren Erkältung verschonst. Gut gemacht. Denn meine Frau kommt zwar am Donnerstag wieder an den Chiemsee. Bekommt aber direkt am Freitag Morgen einen Anruf, dass ihre Mama unerwartet im künstlichen Koma liegt.

Durchdrehen wäre jetzt angebracht, aber nicht möglich – wir buchen Flüge, organisieren uns Hilfe, halten uns fest. Und verabschieden uns – ein paar Stunden, bevor ich dann alleine mit beiden Kindern die Koffer packe und das Auto einräume, um am nächsten Morgen zur nächsten Unterkunft zu fahren. Ein spontan gefundenes Hotel. In den Bergen. Im Schnee. Im Schockzustand.
Mehr geht nicht, wir funktionieren. Die Hoffnung trägt uns. Meine Frau wechselt sich am Krankenbett mit ihrem Bruder ab, sie schlafen auf dem Parkplatz des Krankenhauses, halten Hände und machen etwas, was die Ärzte nicht tun: Daran glauben, dass ihre Mama es schaffen kann. Und ob sie es tut. Kein Wunder, bei all der Kraft, die wir alle geschickt haben. Die beiden vor Ort, wir aus der Ferne.

Ablenkung finde ich bei unseren Orthesenterminen – wir sind täglich bis zu 6,5 Stunden vor Ort und der Kleine darf seine neuen Geschosse auf Herz und Niere testen. Was für ein diszipliniertes Kerlchen, was für ein geduldiger Bruder, was für ein unglaubliches, professionelles Team, was für eine stolze Mamãe, Ehefrau, Schwiegertochter. Und was für tolle Menschen auf Instagram unterwegs sind, die ohne uns zu kennen ihre Hilfe angeboten haben.
Für die letzten drei Tage schafft es meine Frau wieder an den Chiemsee. Mit dabei: Ein Video von Emmy – sie hat sich in der Hundepension die Rute verstaucht und kann sie nicht mehr bewegen. Die Mädels bringen sie zum Tierarzt, die Rute wird gerichtet – und dabei ein Knoten in ihrem Unterleib entdeckt. Uff. Allmählich… So ganz langsam… Fühlt sich das alles doch recht viel an. Schwer zu händeln. Ich wünsche uns unser Zuhause herbei, eine vertraute Umgebung, damit alles andere weiterhin verrückt spielen darf.

Die letzte Etappe steht an: Die lange Fahrt nach Hause steht uns zwar bevor, aber die Aussicht abends ins eigene Bett zu fallen trägt uns die 900km zurück. Direkt beim Hereinkommen wundern wir uns über den ungewöhnlichen Geruch: Haben wir alte Kartoffeln im Schrank vergessen? Oder nasse Wäsche in der Waschmaschine? Vielleicht doch die Spülmaschine? Hm, warum geht die Schranktür nicht auf? Warum ist sie verzogen? Und hier alles nass? Wir wischen, was man innerhalb von 5 Minuten wischen kann. Damit wir die letzten Minuten des Abends damit verbringen können, die Sektgläser zu füllen und auf meinen Geburtstag anzustoßen.
Happy birthday, auf ein neues Lebensjahr! Das Leben beschert mir ein fettes Upgrade für all die Werkzeuge die ich brauche, um das neu zu sortieren, was auf dem Weg auseinander fallen sein mag.
