Vor einem Jahr sind wir ans andere Ende der Republik gefahren, um unseren Sohn mit den weltbesten Orthesen zu versorgen. Pohlig Orthesen aus Traunstein sollten es werden, in Zusammenarbeit mit der Orthopädischen Kinderklinik in Aschau. Aus therapeutischer Sicht ein Traum, die Orthesen haben dem Kleinen zu seinen ersten freien Schritten verholfen. Nichts desto trotz denke ich nicht gerne an diese Reise zurück, denn sie hat uns als Familie alles und noch ein bisschen mehr abverlangt.  

Aber es hilft nichts: Der Kleine ist gewachsen und braucht neue Orthesen – die gleiche Fahrt steht also an. Auch diesmal sollen die Orthesen oberschenkelhoch werden, was erneut zwei Wochen Anproben und Anpassungen nach sich zieht. Letztes Jahr haben wir uns gegen einen stationären Aufenthalt entschieden, da die damals strengen Corona-Regeln es nicht einmal erlaubten, das Zimmer zu verlassen. Dieses Jahr sind die Regeln etwas lockerer, dennoch: der Bewegungsradius beschränkt sich auf das Klinikgelände. Alle Eltern (insb. von kleineren Kindern) wissen: Zwei Wochen auf dem gleichen Fleck können seeehr lang sein. Vor allem wenn die Regeln möglicherweise doch verschärft werden und man am Ende des Tages im Zimmer hocken muss.

Das sind die Gedanken, die uns letztes Jahr dazu bewegt haben, selbstständig eine Unterkunft zu suchen und die Orthesenanpassung ambulant zu machen. Und auch dieses Mal wäre es uns die liebste Option. Doch: woher nehmen, wenn nicht stehlen? Chiemgau, eine wunderschöne, aber teure Region bringt uns zu der Frage: 

Wie hoch ist der Preis für Eltern von Kindern mit Behinderung?

Kinder sind teuer, das wissen wir alle. Doch wie teuer ein behindertes Kind ist, darüber spricht kaum jemand. Viele der Kosten sind offensichtlich: Extra-Untersuchungen und Therapien, Spezielles Spielzeug, besondere Nahrung, Hilfsmittel, adaptive Kleidung, Zuzahlungen, Pflegeprodukte, Wohnungsumbau, Reisekosten… Die Liste lässt sich beliebig fortführen. 

Was aber nicht offensichtlich ist: 

Die unsichtbaren Kosten einer Behinderung

Und genau darüber wollen wir heute hier sprechen. Denn es sind eben diese unsichtbaren Kosten einer Behinderung, die mich psychisch in die Knien gezwungen haben. Einerseits haben sie es in sich, andererseits dachte ich aber auch lange, die Einzige zu sein, die damit struggelt. Und das möchte ich ändern. Auf meinem Instagram Kanal versuche ich so häufig es geht genau diese Themen sichtbar zu machen. Und nun auch hier auf dem Blog:

Was kosten Behinderungen? Zeit

Fangen wir mit einem recht plakativen Beispiel aus unserem Alltag an: Wir fahren wöchentlich 170 Kilometer für die Therapien unseres Sohnes. Die Kilometerzahl ist für sich genommen schon mal eine Hausnummer, aber die Hin- und Rückfahrt sowie die Anwesenheit vor Ort kosten neben Sprit vor allem eines: Zeit.

Für einen regulären Therapietermin sind wir gute 3,5 Stunden unterwegs. Ein Termin beim Arzt dauert selten kürzer. Dabei wohnen wir keineswegs fernab der Zivilisation, sondern wenige Kilometer von Hamburgs Zentrum entfernt. Aber: wir brauchen Spezialist:innen, die meistens weit weg sitzen. Auch die Zeit, die die Organisation dieser Termine und der dafür nötigen Unterlagen in Anspruch nimmt, ist schlicht unvorstellbar. 

Ja, unvorstellbar. Wenn man nicht selbst in einer ähnlichen Situation steckt, kann man sich das nicht vorstellen. Zu häufig habe ich bereits versucht, nicht davon betroffenen Eltern eine Idee davon zu geben, wie anders die Zeitrechnung mit einem behinderten Kind ist, was für ein enormer Druck damit einhergeht, was das z.B. für finanzielle Folgen mit sich bringt – meistens vergebens. Einen Vorwurf kann man ihnen nicht machen, denn das Thema ist so komplex, dass es manchmal selbst uns selbst schwer, all das zu realisieren. Also habe ich diese Aufklärung inzwischen aufgegeben, denn dafür habe ich keine Zeit.

Diese spare ich lieber auf. Für die langwierige, immer wieder stattfindende Suche nach der besten medizinischen Versorgung, der besten therapeutischen Behandlung, den geeignetsten Hilfsmitteln, den richtigen Ansprechpartner:innen.

Für die zweiwöchige Orthesenanpassung. Für die sechswöchige Begleitung bei der Reha. Für die locker vierwöchige Organisation von Terminen, Rezepten, Überweisungen, Berichten, Anträgen, Widersprüchen und und und. Jahr für Jahr für Jahr.

Was kosten Behinderungen? Sozialleben

Es leuchtet ein: Die fehlende Freizeit ist eine große Einschränkung, wenn es um das Sozialleben von Eltern behinderter Kinder geht. Aber leider nicht die einzige – denn ein Kind mit Behinderung großzuziehen isoliert. 

Physiotherapie anstatt Krabbelgruppe, Logopädie anstatt Babyschwimmen, Krankenhausaufenthalte anstatt Musikmäuse: Neben der zeitlichen Komponente macht es auch die räumliche Trennung zu anderen, nicht-betroffenen Familien schwierig, soziale Kontakte zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. 

Spätestens dann, wenn man alles unternimmt, um etwas „Normalität“ zu wahren und einen Babykurs für nicht-behinderte Kinder besucht, wird einem bewusst, dass diese Trennung sich über etliche Bereiche des Lebens erstreckt. Während andere Eltern stolz vom Erreichen der Meilensteinen ihrer Kinder erzählen, macht sich bei uns Trauer und die Unsicherheit breit, ob unsere Kinder es auch jemals können werden. Doch anstatt ehrliche Anteilnahme führen solche Situationen oft zu einer unangenehmen, peinlichen Berührtheit oder gar zur Mitleid – mit der Folge, dass man sich noch weiter abkapselt.

Für mich persönlich war der Rückzug aus der Eltern-Community allerdings die kleinste Baustelle. 

Meine Hebamme meldete sich von dem einen auf dem anderen Tag nicht mehr und war auch nicht mehr zu erreichen. 
Seine Patentante zog sich schon während meiner Schwangerschaft zurück, weil ich „zu viel nur mit meinen Sorgen beschäftigt“ war. Eigentlich wäre es schon da abzusehen gewesen: Nach der Geburt meldete sie sich exakt einmal, danach nie wieder. 
Immerhin einmal! Denn selbst das schaffte meine Mutter seit der offiziellen Diagnose ihres Enkelkindes nicht.

Verdammt, das macht etwas mit einem. Diejenigen ziehen zu lassen, die auf der Durchreise sind, kostet viel Kraft – und diese wird dringend woanders benötigt.

Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden und weitestgehend auf sich alleine gestellt zu sein, zieht sich durchs Leben. Die Erkenntnis, dass der Zusammenhalt der „Übriggebliebenen“ viel wertvoller ist als der Verlust derjenigen, die lieber auf Abstand gegangen sind, lässt manchmal auf sich warten. Aber sie kommt. Und manchmal wird sie sogar beschleunigt, wenn man in Kuren, Wartezimmern und sozialen Medien auf betroffene Familien trifft. Die Vernetzung, der emotionale und alltagsnahe Austausch, die geteilten Erfahrungen sind unfassbar heilsam. Doch davon profitieren zu können setzt voraus, dass man dazu nicht nur zeitlich, sondern auch psychisch in der Lage ist. Womit wir beim nächsten Punkt wären:

Was kosten Behinderungen? Mentale Gesundheit

Die Mehrfachbelastungen, die auf eine Familie mit behinderten Kindern einwirken, sind enorm. Sie prasseln von allen Seiten auf alle Familienmitgliedern ein, innere wie äußere, große wie kleine, und gehen deutlich über die eigene Belastungsgrenzen hinaus.

Am Anfang steht die Diagnose, eine an sich schon meist absolut lebensverändernde Nachricht. Die Art und Weise, wie diese mitgeteilt wird, hat einen direkten Einfluss darauf, wie Eltern sich die Zukunftsperspektiven ihres Kindes vorstellen. Aber auch auf das einfühlsamste Überbringen dieser Nachricht folgen häufig Zukunftsängste, Unsicherheiten, Sorgen, Schuldgefühle, Trauer, Wut, Enttäuschungen… Die Liste ist schier endlos und jedes dieser Gefühle hat es wirklich in sich.

Hat man die Diagnose halbwegs wahrgenommen (von verdaut ist man am Anfang häufig noch meilenweit entfernt), gehen die Belastungen in Form von quälenden Fragen weiter: 

Wie gestaltet sich der tägliche Umgang mit dem Kind? Wie verabschiedet man sich von seinen alten Vorstellungen und findet die Kraft, Raum für neue Träume zu schaffen? Was macht es mit einem, wenn das Kind in der Familie, im Freundeskreis oder in der Gesellschaft ausgegrenzt wird? Wie sorgt man dafür, weiterhin für andere Familienmitglieder da sein zu können? Wie kann man seine eigenen Ansprüche herunterschrauben? Wie kann man das Kind bestmöglich unterstützen? 

Diese Fragen setzen einem zu. Sie bringen das eigene Wertesystem ins Schwanken. Selbst Menschen, die psychisch mit beiden Beinen fest im Leben stehen, können sich nur schwer aus diesem Schockzustand befreien. Diese einschneidenden Veränderungen im Leben zu verarbeiten, sich mit der neuen Lebensrealität zu arrangieren und das Gleichgewicht im Familienalltag wiederherzustellen verlangt viel Kraft – und das geht auf Kosten der mentalen Gesundheit.

Was kosten Behinderungen? Finanzen

Neben den weiter oben genannten, eher offensichtlichen Kosten, die mit einer Behinderung einhergehen, haben Eltern behinderter Kinder oft mit weiteren, zusätzlichen finanziellen Belastungen zu kämpfen. 

Durch den erhöhten Zeit- bzw. Anwesenheitsbedarf für die Pflege des Kindes ist die Vereinbarkeit für viele Eltern leider utopisch – denn die Betreuung an sich stellt bereits einen Vollzeit-Job dar. Selbst eine flexible Gestaltung der Arbeitszeit oder z.B. Homeoffice können nicht immer zur Lösung des Problems beitragen. 

So ist die (Wieder-)Aufnahme einer Berufstätigkeit häufig mit signifikanten Abstrichen verbunden. Zu „Klassikern“ wie verkürzter Arbeitszeit, Verzicht auf den beruflichen Aufstieg oder gar Berufswechsel gesellt sich nicht selten das Problem, dass einer Berufstätigkeit wegen fehlender Entlastungs- bzw. Betreuungsmöglichkeiten gar nicht erst nachgegangen werden kann.

Jeder genehmigten finanziellen Entlastung stehen gefühlt mindestens zwei abgelehnte Anträge, lange bürokratische Wege durch Ämter, viel Eigeninitiative und noch mehr Beharrlichkeit gegenüber. Unklare Zuständigkeiten, geringe Kooperation der Leistungsträger untereinander, eine sich häufig verändernde Gesetzeslage, Informationsbeschaffung zu Rechten und Ansprüchen:

Für die finanziellen Einbussen, die alleine dadurch entstehen, gibt es schlicht keinen adäquaten Ausgleich. 

An dieser Stelle möchte ich aber auch die psychische Belastung anführen, die in meinem Fall einen großen Teil dazu beigetragen hat, als Selbständige auf viele Aufträge verzichten zu müssen. Wenn man bedenkt, dass die Erwerbstätigkeit eine wichtige Ressource im Bewältigungsprozess darstellt, kann man sich vorstellen, dass ein Entkommen aus diesem Teufelskreis etwas für Fortgeschrittene ist.

Die unsichtbaren Kosten einer Behinderung – mein Fazit

Nach der Geburt meines Kindes konnte ich lange nicht die richtigen Worte finden, um unsere Situation zu beschreiben. Mit jedem jetzt neu geschriebenen Artikel aber wird mir bewusster, dass die Akzeptanz der Behinderung nie wirklich mein Problem war.

Mein Problem waren und sind die mit der Behinderung einhergehenden Herausforderungen, vor die man als Eltern gestellt wird. 

Die vielen Barrieren, die in der Gesellschaft und den Institutionen immer noch fest verankert sind. Sie sind die Stolpersteine, die auf dem langen Weg der Heilung liegen. Sie sind die Strukturen, die uns ausgrenzen. Sie sind die Mauer, die uns Eltern behinderter Kinder von der Lebensqualität, die unsere Familien verdienen, trennt. 

Wann hast du dir das letzte Mal auf die Schulter geklopft, diese Barrieren aus dem Weg geräumt zu haben? Wann hast du dich zuletzt dazu beglückwünscht wieder aufgestanden zu sein, nachdem du über ein Hindernis gestolpert bist? Hier ist deine Erinnerung daran, es JETZT zu tun. Denn wir alle machen es gut. WIRKLICH, wirklich verdammt gut.

Uff. Wenn du bis hierhin gelesen hast, bist du höchstwahrscheinlich wie wir Elternteil eines Kindes mit Behinderung. Ich hoffe, dieser Beitrag ist für dich hilfreich gewesen und freue mich sehr, wenn du ein Teil unserer Community auf Instagram wirst!